Meine Eltern freuten sich auf meine Geburt. Als neues Landei kam ich in eine Bäckerfamilie mit Gaststätte, Lebensmittelladen und kleiner Landwirtschaft.
Ich überraschte Ärzte und Hebamme damit, dass ich eine gelbliche Schicht über meinem Gesicht hatte. Es stellte sich heraus, dass meine Mutter in der Anfangsphase der Schwangerschaft die Röteln gehabt hatte.
Einige Monate später stellte unsere Nachbarin fest, dass ich nicht richtig sehen konnte. Frau Gutschmann kam, um einzukaufen. Meine Urgroßmutter war an diesem Tag alleine, um auf Gaststube und Lebensmittelladen aufzupassen. Da ich im Bettchen lag und heftig weinte, bat meine Uroma die Nachbarin, nach mir zu sehen. Kaum war sie ins Schlafzimmer meiner Eltern eingetreten, wurde ich ruhiger. Nachdem sie mich aus dem Kinderbett herausgeholt hatte und mit mir zum Fenster ging, streckte ich meine Ärmchen aus, um nach dem Licht zu greifen. Diese Beobachtung erzählte Frau Gutschmann meiner Mama. Daraufhin ging meine Mutter mit mir von einem Arzt zum anderen, um herauszufinden, was mit meinen Augen nicht stimmte.
Meine Großmutter erfuhr eines Tages von einer Bekannten, dass es in Mainz einen Professor gab, der Menschen an den Augen operierte.
Ich war gerade sieben Monate alt, als ich an beiden Augen operiert wurde. In den 1960er Jahren war es gängige Praxis, den Menschen mit Grauem Star die Linsen zu entfernt und durch eine Brille zu ersetzen. Jetzt sah ich zum ersten Mal meine Mutter, meinen Vater und die Großeltern und nahm begeistert meine kleine Welt wahr. Wirklich gutes Sehen stellte sich bei mir nicht ein, ich sah nur ein Viertel von dem, was andere sehen konnten. Ich lernte, meinen Instinkt zu nutzen, dennoch stolperte ich oft über Unebenheiten, oder stieß mich an Ecken, weil ich es nicht gesehen hatte. Blaue Flecken und Schrammen an Armen und Beinen ertrug ich tapfer und stand immer wieder auf.
Als ich in eine Blinden- und Sehbehindertenschule kam und im Internat leben musste, machte mir das zu schaffen. Meine Familie sah ich nur an den Wochenenden. Die erste Zeit dort war schwer für mich und oft weinte ich.
Damit die anderen Kinder und ich uns aneinander gewöhnten, spielen die Erzieherinnen viel mit uns. Bei dem Spiel »Stille Post«, bemerkten sie jedoch, dass ich nicht gut hörte. Sie schickten mich von einer Untersuchung zur Nächsten, bis die Ärzte meinen Eltern und der Heimleitung sagten, dass bei mir keine Behandlung möglich sei. Einen Hinweis, dass ein Hörgerät mir helfen könnte, bekamen sie nicht.
In dieser Zeit erlebte ich Klassenkameraden und sogenannte Freunde, die mich wegen meines schlechten Hörens ärgerten und mobbten. Sie lachten mich aus, wenn ich das Gesagte falsch verstanden hatte. Mit ihren Fingern zeigten sie auf mich, wenn ich eine Antwort gab, die nicht zur gestellten Frage passte. All das frustrierte mich, sodass ich immer wieder Süßigkeiten in mich hineinstopfte, um mich besser zu fühlen, und dadurch dicker wurde, was mir wiederum körperlich zu schaffen machte. So begann ein endloser Kreis von Gewichtszu- und abnahmen, von weniger guten und vielen schlechten Erlebnissen und Erfahrungen. Ein ständiges Auf und Ab, das ich oft seelisch nicht verkraftete. Ich verkroch mich meistens, um zu lesen und wurde zunehmend unzufrieden und aufbrausend, in dem ich alle um mich herum anschnauze.
Nachdem ich die Schule abgeschlossen hatte, arbeitete ich im Betrieb meiner Eltern mit. Wir hatten eine Bäckerei, einen Lebensmittelladen und eine Gaststätte mit Gästezimmern. Man kannte mich in der Gemeinde, sodass sich unsere Kunden auf mich und meine Handicaps einstellen konnten. Jakob, mein Bruder, musste nach seiner Gesellenprüfung, im Backhandwerk, zur Bundeswehr, wo man bei ihm eine Mehlstauballergie feststellte. Er bekam von der Bäckerinnung eine Umschulung zugesichert und begann eine Ausbildung als Versicherungskaufmann. Ich überlegte in dieser Zeit, ob ich das ebenfalls machen sollte, und entschied mich dafür. Beim Arbeitsamt stellte ich einen Antrag auf eine Ausbildung, die von der Behörde auf eine Umschulung umgestellt wurde, weil ich bereits sieben Jahre lang gearbeitet hätte. Ich durfte nach Veitshöchheim, einem kleinen Vorort von Würzburg, fahren, um dort prüfen zu lassen, welche Ausbildungsmöglichkeiten für mich gegeben waren. Gemeinsam mit dem Prüfungsteam, des Berufsförderungswerks, entschied ich mich für den Ausbildungsberuf der Bürokaufleute. Die einzige Bedingung war, dass ich mir ein Hörgerät anschaffte.
Das war der Wendepunkt in meinem Leben: Ich bekam mein erstes Hörgerät. Mit fast sechsundzwanzig Jahren konnte ich zum ersten Mal Vögel zwitschern, meinen Hund knurren und die Stille, wenn nur die Uhr tickte, wahrnehmen. Es begann die Zeit, in der ich die Worte richtig verstehen lernte.
Doch der nächste Schlag ließ nicht lange auf sich warten. In dieser Zeit wurde bei mir Diabetes diagnostiziert, vermutlich eine Folge all meiner seelischen Belastungen.
Viele Jahre später, ich hatte geheiratet und meinen Mann an Krebs verloren, nach harten Kämpfen um einen Job und langer Krankheit musste ich die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit einreichen.
Ich zog zurück in meine Heimat. Dann bekam ich ein neues Hörgerät. Mit diesem entdeckte ich die Welt der Sprache neu. Fasziniert lauschte ich den Geräuschen und Worten, als seien sie Musik. Begeistert und wie frisch verliebt nahm ich die Buchstaben, Worte und Sätze auf, als fühlte ich eine Melodie in mir. Voller Leidenschaft gab ich mich dem neuen Gefühl hin und begann mit Freude zu schreiben. Um meine Texte meinen neu gewonnen Freunden vorzulesen, las ich sie mir selbst laut vor. Ein wahrer Glücksrausch, den ich damals durchlebte. Und auch heute noch genieße ich es täglich, die wunderbare Welt zu sehen und zu hören.
Georg meint
Uff, da hast Du ein herausforderndes Leben sehr kurz dargestellt. Da steckt noch viel spannendes in den ganzen Entscheidungsphasen. Bin gespannt mehr zu erfahren.
Liebe Grüße
Georg
Jutta Frenzel meint
Lieber Georg!
Danke dir herzlich für deinen Kommentar.
Das Leben an sich ist spannend und hat täglich seine Herausforderungen. Deshalb bin ich ebenso gespannt, was noch alles kommen darf.
Ich freue mich bal wieder von dir lesen zu dürfen und bis dahin, wünsche ich dir eine wundervolle Zeit mit viel Spaß, Freude, Glück und Erfolg!
Liebe Federgrüße
Jutta